Ein Blick in die Gegenwart mit TikTok

Wie ich in den vorherigen Kapiteln herausgearbeitet habe, sind Memes wichtige Werkzeuge zeitgenössischer Kommunikation, die verstanden werden müssen, um am Puls der Zeit zu bleiben. Dieses Verständnis erfordert immer wieder neue Anstrengungen, da sich die formalen Strukturen von Memes ständig verändern. Es ist unmöglich, vorherzusagen, wie Memes in der Zukunft aussehen werden. Es lohnt sich daher, einen Blick auf aktuelle Meme-Praktiken zu werfen, die vor allem auf jüngeren Plattformen wie TikTok angewendet werden. Diese Plattform rückt das Videoformat in den Fokus und prägt eine eigene, neue Art des Meme- Machens, die sich von klassischen 150 Memes auf anderen sozialen Medien unterscheiden.

TikTok wurde 2018 als Zusammenschluss aus den beiden chinesischen Apps musical.ly (2014) und Douyin (2016) gegründet. In der Frühphase von musical.ly machen selbst gefilmte Playback-Videos den Großteil der dort geteilten Inhalte aus, in denen Nutzer_innen zu einer hinterlegten Tonspur die Lippen bewegen und tanzen. Die meisten dieser Personen gehören zu der Generation Z151 , was bedeutet, dass sie nach dem Jahr 1999 geboren sind. Heute sind ist das Angebot von TikTok differenzierter: Neben den immer noch sehr häufigen Sing- und Tanzvideos zeigen Nutzer_innen Videos, die allgemeine Informationen, politische Meinungen, gesellschaftliche Diskurse, Comedy oder alltägliche Gedanken verbreiten. Obwohl TikTok immer wieder für toxische Schönheitsideale oder Datenschutzprobleme kritisiert wird, ist sie gleichzeitig eine Plattform, die es Nutzer_innen erlaubt, sich zu vernetzen, um feministische und diverse Diskurse zu führen: Themen wie Bodyshaming oder der Male Gaze, werden über eigene Videoinhalte diskutiert.

Eine besonders beliebte Funktion ist das Duett, bei dem Nutzer_innen auf Videos reagieren können: Wenn eine Person ein Tanz- oder Gesangsvideo als potentielles Duett markiert, können andere Nutzer_innen im Nachhinein dazu tanzen oder singen. In dem Video des Duetts werden beide Aufnahmen gezeigt und gleichzeitig abgespielt (Abb. 1. Für Ansicht Klicken). Diese Duettfunktion wird nicht nur für musikalische Inhalte benutzt, sondern auch für Unterhaltungen, Sport, Nachahmungen und andere Interaktionen und sie fördert die Zusammenarbeit der Nutzer_innen auf der Plattform.

Memes auf TikTok sind immer im Videoformat, rekurrieren dabei aber auf formale Strukturen klassischer Memes. Herangehensweisen wie das Benutzen von vorgefundenem Material (egal ob Bewegtbild oder Foto), das Abspielen eines bestimmten Sounds152 , eine explizite Kameraführung oder eine Trash-Ästhetik bilden den Rahmen für eine neue Ebene, die in diesem Ausmaß erst auf TikTok in die Meme-Praxis eingegangen ist: Die Performance oder das Reenactment des Körpers der Nutzer_innen.


E-Girl Factory

Das E-Girl Factory Meme zeigt Videos von Nutzer_innen, die einen Raum betreten, der als E-Girl Fabrik bezeichnet ist. Nachdem sie die Tür öffnen, werden sie angeblich gegen ihren Willen mit Hilfe von Make-Up und einem bestimmten Kleidungsstil in ein E-Girl153 verwandelt (Abb. 2). Die Kameraeinstellungen sind von Video zu Video sehr ähnlich (Abb. 3) und bilden eine Ebene dieses Meme- Formats: Nutzer_innen imitieren die formale Struktur der vorherigen Videos, ganz so wie es bei klassischen Memes geschieht: Hier (Abb. 4, Abb. 5) werden ebenfalls formale Strukturen wie die Tabellenform, die Bilder und die sich in Leserichtung zuspitzende Aussage eingehalten. Die zweite Ebene des E-Girl Factory-Memes ist die Tonspur.
Wie bei vielen Memes auf TikTok wird ein spezifischer Sound über die Videos gelegt, hier ist es ein Ausschnitt des Musikstücks ME!ME!ME! der Interpret_innen TeddyLoid und Daoko. Dieser Sound imitiert ebenfalls die vorherigen Videos. Auch das imitieren einer Tonebene unterscheidet sich nicht von klassischen Memes. Video-Memes anderer sozialer Medien haben oft einen spezifischen Hintergrundsound, der in neue Kontexte gesetzt wird.

Der Körper der Nutzer_innen fügt TikTok-Memes eine neue Ebene hinzu, die in diesem Ausmaß auf anderen Plattformen nicht zu finden ist. Sie imitierten die Bewegungen der Personen, die auf dem vorherigen Meme zu sehen sind und bringen durch abweichendes Verhalten Eigenheiten in ihre Performance mit ein. Mutationen des Memes entstehen durch kleine Veränderungen der formellen Struktur und neuen Performances - oder Neukontextualisierungen, wie in diesem Video (Abb. 6), das einen Peppa Pig-Ballon als Protagonistin der E-Girl Factory zeigt.

Memes auf TikTok sind durch den hohen Stellenwert des Körpers und der Performance individueller als klassische Memes, denn die Nutzer_innen schreiben sich in das Medium ein. Der Fokus auf das Individuum spiegelt auch problematische Seiten der Plattform wider: Durch Trends propagierte unerreichbare Schönheitsideale können zu Selbstwertproblemen und Body Dysmorphia führen. Auch auf der Software-Ebene kann TikTok diskriminierend sein, denn der sogenannte „Beauty-Algorithmus“ der Plattform macht westlich und asiatisch aussehende Menschen mit heller Hautfarbe sichtbarer, indem er ihre Inhalte besser platziert als die Inhalte von BIPOC154 . Die Nutzerin mit den zur Zeit meisten Follower_innen charlidamelio ist mit einem Tanz bekannt geworden, der von der schwarzen Nutzerin jalaiahharmon erfunden wurde.155 Viele der viralen Tänze auf TikTok werden von BIPOC produziert, die selten eine gebührende Anerkennung für diese Leistung erhalten. 156


Khaby.lame

Der TikTok-Nutzer khaby.lame wurde durch seine Videos bekannt, in denen er auf Lifehacks anderer Nutzer_innen der Plattform reagiert. Lifehacks sind kreative Lösungen für alltägliche Probleme, die vor allem auf Plattformen wie Youtube und Facebook in eigenen Videos gezeigt werden. Sie sind mal hilfreich und mal zu kompliziert und unnötig. Lifehack-Videos auf TikTok steigern die Absurdität dieses Genres, indem das Problem offensichtlich einfach zu lösen ist, die Nutzer_innen aber große Anstrengungen oder Entbehrungen dafür auf sich nehmen. Khaby.lames Videos folgen einem ähnlichen Muster: Er zeigt zuerst Teile eines TikTok-Beitrags, um dann darauf mit einer einfachen Lösung zu reagieren. Wie bei Memes auf anderen Plattformen arbeitet er mit gefundenem Material, das er in einen anderen Kontext setzt. Als Werkzeug dient hier ebenfalls der Körper, der zum einen nachspielt und zum anderen eine eigene Performance als neue Ebene mit einbringt.

Hier (Abb. 7) persifliert er ein Video einer Nutzerin, die zwei Pappbecher aufeinander klebt, anstatt den unteren umzudrehen, um ein Trinkgefäß zu erhalten. Er spielt die Situation nach, dreht sein Glas um und zeigt mit beiden Händen auf die Lösung. Sein Gesichtsausdruck ist dabei immer gleich: Er blickt resignierend in die Kamera. In diesem Beispiel (Abb. 8) filmt sich ein Nutzer, dessen Oberteil in einer Autotür eingeklemmt ist. Er greift durch das offene Fenster der Tür und nimmt eine Schere vom Autositz, mit deren Hilfe er sein Oberteil abschneidet. Khaby.lame spielt anschließend die Situation nach, greift aber nicht durch das offene Autofenster nach einer Schere, sondern öffnet die Tür von innen und zeigt mit seinen Händen auf die Türe.

Khaby.lame führt durch seine Persiflage den Lifehack zurück zu seinem praktischen Ursprung. Dieser war eine Hilfestellung für andere Nutzer_innen, verfügbar gemacht durch die sozialen Medien. Auch bei khaby.lames Memes schließt sich ein Kreis, denn sein ausdrucksstarkes Gesicht und seine Gestik, die in fast allen seiner Beiträge zu sehen sind, wurden als Screenshots zu Memes auf anderen Plattformen (Abb. 9). Memes oder virale Inhalte auf TikTok können sich auf zwei Arten entwickeln: Entweder sie bleiben im Videoformat auf dieser Plattform und verbreiten sich nach den oben genannten formalen Strukturen, oder ein bestimmter Teil (ein Sound, ein Screenshot oder ein Ausschnitt) findet seinen Weg in andere soziale Medien und wird dort durch Video-oder Bildbearbeitungen in die klassische Meme-Praxis aufgenommen.


Ausblick

Hier lassen sich die wichtigsten Unterschiede der beiden Meme-Arten erkennen. Auf TikTok gibt es eine dynamische, auf bewegten Bildern beruhende Praxis, die vor allem durch performative Akte der Nutzer_innen selbst getragen wird. In Memes älterer Plattformen gibt es kaum individuelle körperliche Aktionen, die Imitationen und Mutationen finden vor allem durch Bildbearbeitungen statt.
Diese Unterschiede machen deutlich, dass Memes sich mit der Zeit verändern. Wer in Zukunft an digitaler Kommunikation teilhaben und diese auch verstehen möchte, muss sich ständig neues Wissen aneignen, Trends genau im Blick haben und sich der grundlegenden Meme-Tradition bewusst sein. Das sich diese Anstrengung lohnt, hoffe ich in meinen Texten vermittelt zu haben.




150 Ich benutze in diesem Text den Ausdruck klassisch, um Memes anderer Plattformen von denen auf TikTok abzugrenzen. 151 Joshua Citarella: Welcome to TikTok, the Wildly Popular Video App Where Gen Z Makes the Rules , 2018, www.artsy.net/article/artsy-editorial-tiktok-wildly-popular-video-app-gen-rules, gesehen am 19.09.2021. 152 Als Sounds werden auf TikTok über das Video gelegten Tonspuren bezeichnet.153 Der Begriff E-girl meinte ursprünglich weibliche Personen, die viel Zeit im Internet verbringen und/ oder Videospiele spielen und mit ihrem Aussehen und Verhalten Widerspruch auslösen wollen. Der Kleidungsstil erinnert an Emos, eine Jugendbewegung aus den 2000er Jahren, die sich visuell an Punk anlehnt. Heute meint der Begriff E-Girl eine aesthetic (eine Kultur, einen Lifestyle oder eine Mode) die sich von der ursprünglichen Bedeutung abhebt. (www.knowyourmeme.com/memes/e- girl-e-boy). 154 Black, Indigenous, and People of Color. 155 Julia Vu: TIKTOK’S BEAUTY ALGORITHM’S REINFORCEMENT OF PRETTY PRIVILEGE, 2020, www.qlsroar.org/2020/12/29/tiktoks-beauty-algorithms-reinforcement-of-pretty-privilege/, gesehen am 19.09.2021. 156 Eva Sauphie: #BlackTikTokStrike: Black dancers call for TikTok boycott, 2021, www.theafricareport.com/121114/blacktiktokstrike-black-dancers-call-for-tiktok-boycott/, gesehen am 19.09.2021.