Einleitung und Definition

Vor ungefähr drei Jahren wurde mir im Zusammenhang mit meiner fotografischen Arbeit an der KHM, bei der ich mich mit Diskursen der analogen und digitalen Fotografie beschäftige, die Relevanz der digitalen Insider-Witze des Internets bewusst, die international als Memes bekannt sind. Vorher habe ich mich viel im Internet bewegt und hatte immer wieder Kontakt zu einzelnen Memes, war mir aber nie um deren inhaltliche und bildsprachliche Tiefe bewusst. Im Sommer des Jahres 2018 sah ich auf verschiedenen Internet-Plattformen eine große Zahl von Memes, die auf einer Fotografie einer großen Motte mit leuchtenden Augen beruhen. Sie behandelten das Verlangen dieser Motte nach Licht, bzw. Lampen (Abb. 1. Für Ansicht Klicken). Ich habe nicht verstanden, warum unzählige Nutzer_innen über Monate immer wieder neue Variationen und Abwandlungen dieses Memes produzierten und teilten (Abb. 2). Auch die Verknüpfungen mit anderen Memes war für mich sehr rätselhaft und weckten in mir den Wunsch, diese Dynamiken zu verstehen. Seitdem beschäftige ich mich intensiv mit dem Thema und versuche es im Detail einem größeren Publikum verständlich zu machen und dessen Relevanz für unsere Gesellschaft aufzuzeigen. Mich als Fotografen interessieren nicht nur thematische Aspekte, sondern auch das Erscheinungsbild von Memes, das auf einer sehr eigenen Ästhetik beruht.

Was ist ein Meme und wie wurde der Begriff in der Vergangenheit geprägt? Warum betrifft er die meisten Personen, die auf Plattformen, in Foren oder über private Messenger im Internet interagieren und was bedeutet es für Meme- Subkulturen, dass ihre Kreationen immer populärer werden? Dieser Text dient als Einleitung für verschiedene Kapitel, die aus meiner Recherche zum Thema Memes resultieren. In der folgenden Kapitelsammlung untersuche ich anhand von diversen Themen, welche Rolle Memes heute in unserer zunehmend im Netz stattfindenden Kommunikation spielen und welche Mechanismen dabei wirken.

Das Kapitel „Leuchtende Augen und die Meme-Tradition“ konzentriert sich auf die Herkunft der tradierten, ungeschriebenen Regeln, die für Memes heute gelten. In dem Kapitel „Rechte Aneignung von Memes“ geht es um ein sehr bekanntes Meme, dessen Benutzung Einfluss auf die US-Wahl im Jahr 2016 hatte und in ein Kräftemessen zwischen Links und Rechts involviert wurde. Im Kapitel „Linke Meme- Lords“ untersuche ich deutschsprachige Accounts auf Instagram, die linke Gedanken mit Hilfe von Memes verbreiten. Das Kapitel „Deep Fried Memes und das digitale Bild“ beschäftigt sich mit foto- und medientheoretischen Diskursen am Beispiel einer besonderen Art von Memes und das Kapitel „Ein Blick in die Gegenwart mit TikTok“ dient als Ausblick.
In dieser Einleitung möchte ich den Begriff Meme seit seiner Entstehung beschreiben und anschließend aufzeigen, was ein Meme ausmacht, welche vermeintlichen Regeln dafür gelten und inwiefern man überhaupt von einer geregelten Praxis ausgehen kann.



Was sind Memes?

Der Begriff Meme (oder Mem, wie er in der deutschsprachigen Wissenschaft genannt wird) stammt aus der Evolutionsbiologie: Richard Dawkins hat ihn in seinem Buch „Das egoistische Gen“ aus dem Jahr 1976 geprägt, das eine evolutionsähnliche Systematik bei kulturellen Verhaltensweisen oder Gedanken beschreibt - wie zum Beispiel einen bestimmten Musikgeschmack, der sich von Mensch zu Mensch überträgt.1 Ich benutze in meinen Texten für Internet-Memes die englische Version des Begriffs (Meme) da im deutschsprachigem Internet kaum jemand Mem sagt. Die Wissenschaftsrichtung nenne ich weiterhin Memtheorie.

Das Wort Meme ist eine freie Wortneuschöpfung aus „gene“ und „mimesis“ und beschreibt etwas, das weitergegeben wird, imitiert und mutiert.2 Daraus entwickelte sich ein eigenes Forschungsfeld, die Memtheorie, die sich mit den Mechanismen der Memetik befasst und nicht speziell mit Internet-Memes. Die Bezeichnung der Internet-Memes hat sich zu Beginn der 1990er Jahre vom wissenschaftlichen Begriff abgespalten. In dem Artikel „Meme, Counter-meme“ 3 auf der Website Wired beschreibt Mike Godwin im Jahr 1994 die Benutzung von Nazi-Vergleichen auf Usenet-Foren. Er stellt fest, dass in fortschreitenden Diskussionen Aussagen von Nutzer_innen regelmäßig als „similar to the nazis“ oder „Hitler-like“ bezeichnet werden. Dieses immer wiederkehrende Muster nennt er Memes und bleibt dabei nah an dem von Dawkins geprägten Begriff. Laut Knowyourmeme 4 (einem Online-Archiv für Memes) ist dies die erste protokollierte Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit Internet-Memes. 5 Bis in die frühen 2000er Jahre wurden diese noch mehrheitlich „In-jokes“ genannt, erst mit der Entstehung der Imageboards wurde der Begriff Meme populärer.6

Um die Dynamiken von Internet-Memes zu verstehen, ist es meiner Einschätzung nach nicht zielführend, diese durch die wissenschaftliche Brille der Memtheorie zu betrachten. Sie konzentriert sich zu sehr auf die exakten Mechanismen der Memetik, lässt wichtige Faktoren wie die Netzwerkeffekte des Internets außer Acht, ist zu sehr an die Biologie angelehnt7 und nimmt nicht aktiv am Diskurs der Internet-Culture teil. Das liegt vor allem daran, dass viele der wichtigen Publikationen zu alt sind und mit der schnellen digitalen Entwicklung nicht mehr Schritt halten können. Bücher wie „The Meme Machine“ von Susan Blackmore aus dem Jahr 1999 oder auch das sich spezifisch mit Internet-Memes auseinander- setzende „Meme“ von Limor Shifman aus dem Jahr 2014 sind zwar wichtig aufgrund ihrer Vorreiterrolle, haben mir aber wenig Erkenntnisse über Meme-Praxis im Internet geliefert. Viel aufschlussreicher sind für mich Publikationen, die aus anderen Forschungsfeldern wie den Medien- oder Kommunikationswissenschaften stammen und denen man anmerkt, dass ihre Autor_innen sehr viel Zeit im Internet verbracht und dort intensiv recherchiert haben. Beispiele dafür sind Whitney Phillips, Ryan M. Milner und Geert Lovink. Ebenfalls aufschlussreich sind für mich Erfahrungsberichte von Personen, die aktiv in Internet-Subkulturen teilgenommen haben, wie zum Beispiel Dale Beran, ein Schriftsteller, der sehr viel Zeit auf 4chan8 verbracht und ein Buch darüber geschrieben hat — oder die Künstlerin Andy King 9 und der Künstler Joshua Citarella10 , die eigene Erfahrungen in ihrer Kunst verarbeiten und zu diversen Themen sehr ausführlich recherchieren.

Aus diesen Gründen möchte ich von der wissenschaftlichen Memtheorie in meinen Texten Abstand nehmen, ohne die Herkunft des Begriffes Meme zu ignorieren. Seine grundlegenden Eigenschaften sind essentiell für die Funktionsweise von heutigen Internet-Memes: Sie verbreiten sich viral, was durch die potenzierenden Effekte des Internets erst ermöglicht wird. Ein digitales Bild kann in Sekundenschnelle um die Welt gehen und sehr viele Nutzer_innen erreichen. Diese schnelle Verbreitung ermöglicht die vielen Mutationen der digitalen In-Jokes.


Meme-Beispiele

Als erstes Beispiel soll hier das bekannt gewordene Meme Bernie Sanders Mittens11 dienen: Im Januar 2021 wurde ein Foto von Sanders (Abb. 3), das bei der der Amtseinführung Joe Bidens aufgenommen wurde, viral im Internet verbreitet. Die Mutation dieses viralen Inhalts erfolgt unmittelbar, entweder durch Kommentare oder durch Bildbearbeitungen: Bernie Sanders Mittens wurde zu Beginn zum Beispiel auf Twitter kommentiert und in einen anderen Zusammenhang gesetzt, was im Grunde auch schon eine Art Meme ist (Abb. 4). Später begannen Nutzer_innen das Bild zu bearbeiten und auf der Bildebene in andere Kontexte zu setzen (Abb. 5). Diese Meme-Mechanismen beschränken sich nicht nur auf Bilder, sondern auch Verhaltensweisen, Videos, Bestimmte Ausdrücke, Texte und vieles mehr. Ich konzentriere mich in dieser kurzen Beschreibung hauptsächlich auf digitale Bilder.

Die grundlegende inhaltliche Aussage vieler Memes ist neutral, erst der Kontext, die Bearbeitung oder der kommentierende Text formulieren den Inhalt.12 Bernie Sanders Mittens kann als Kritik oder als Lob seiner Person benutzt werden. Aus Fotografien, die Personen wie dem rechten Podcaster Steven Crowder zeigen, können Memes entstehen, die sich über seine sexistischen Überzeugungen durch eine ironische Auseinandersetzung lustig machen. Das Meme Change My Mind beruht auf einer Fotografie Crowders (Abb. 6), der an einem amerikanischen College mit Student_innen darüber debattieren wollte, ob männliche Privilegien ein Mythos seien. Ein an seinem Tisch befestigtes Plakat sagt in großen Buchstaben: „MALE PRIVILEGE IS A MYTH. CHANGE MY MIND“. In der Frühphase dieses Memes machten sich Nutzer_innen über Crowder und seinen Sexismus lustig, indem sie die Aussage auf seinem Plakat auf eine überzogene und ironische Weise veränderten (Abb. 7)). 13 Später löste sich das Meme von seiner Person und seinen gesellschaftlichen Ansichten. Oft werden Köpfe von anderen Personen auf den von Crowder montiert um die Aussage des Plakats auf sie zu beziehen (Abb. 8). So wird das Meme immer wieder in neue Kontexte gesetzt. Meiner Einschätzung nach wissen viele der mit diesem Meme vertrauten Nutzer_innen nicht, wer die ursprüngliche Person auf der Fotografie ist - vor allem außerhalb der USA. Auch ich war mir dem Kontext lange nicht bewusst, obwohl ich schon etliche Change My Mind Versionen gesehen hatte. Memes sind in vielen Fällen losgelöst von den Kontexten der zugrundeliegenden Vorlagen, oder behandeln diese ironisch. Die Kontexte können sich immer wieder verändern, sei es durch langsame Umdeutungen durch Meme-Mutationen oder durch zielgerichtete Aktionen von Nutzer_innen.

In meinen Texten schreibe ich oft von einer Meme-Tradition. Damit meine ich eine Ikonografie der Bildinhalte, die in Memes verarbeitet werden. Viele dieser Bildinhalte sind nicht willkürlich oder zufällig, sondern bauen lose aufeinander auf, bilden unzählige Verweise zu anderen Bildinhalten und haben bestimmte Bedeutungen. Visuelle Versatzstücke, wie zum Beispiel grelle, rot leuchtende Augen, die auf eine Fotografie einer Person gelegt sind, weisen auf eine bestimmte Bedeutung hin, die von vielen Nutzer_innen im Internet erkannt wird. Diese sogenannten Glowing Eyes (Abb. 9) stehen für einen Gewinn an Kraft, Macht oder Wissen dieser Person (siehe dazu das Kapitel „Leuchtende Augen und die Meme-Tradition“). Solche Attribute können sich über die Zeit verändern. So entsteht eine Tradition der Memes, die in einem komprimierten Zeitraum tradiert wurde.


Frühe Memes

Schon seit den 70er Jahren, als einige wenige Personen begannen ihre Heimcomputer über Telefonleitungen zu vernetzen, wurden Meme-ähnliche Inhalte digital geteilt, wie zum Beispiel ASCII art (Abb. 10), ANSI art (Abb. 11)14 oder die sogenannte Leetspeak, eine eigene Art zu schreiben, die unter Hackern sehr weit verbreitet war.15 Ein Beispiel für ein sehr frühes Meme, das in seiner Entstehung viele Parallelen zu heutigen Memes aufweist, ist Silly-Cow (Abb. 12), das in der Mitte der 80er entstanden ist. Ausgehend von dieser textbasierten Darstellung einer Kuh wurden unzählige Variationen oder selbstreferenzielle Witze verbreitet (Abb. 13). 16

Mitte der 1990er Jahre, als das Internet kommerzialisiert wurde und dadurch für mehr Menschen zugänglich war, vervielfachten sich die Möglichkeiten, Bildwitze und Verhaltensweisen mit anderen Personen zu teilen und andere Ideen weiterzuentwickeln. 17 Dabei spielten auch schon die für heutige Memes geltenden Mechanismen eine große Rolle: feststehende Witze und bestimmte Verhaltensweisen veränderten sich durch die Interaktionen der Nutzer_innen. Wichtig ist, dass viele dieser Beispiele keine digitalen Bilder waren, sondern auf Text basierten, worauf Goodwin’s Artikel aus dem Jahr 1994 schließen lässt. Das kann auch daran liegen, dass das Teilen von Bildern im Internet damals mit mehr Aufwand verbunden war.

Der nächste große Schritt war die Entwicklung der sogenannten Imageboards - also Internetforen, die es erlaubten, außer Text auch digitale Bilder zu teilen. Das international bekannteste, aus einer japanischen Internet-Tradition entstandene Imageboard ist 4chan, das seit dem Jahr 2003 existiert. Im deutschsprachigen Internet war Krautchan vom Jahr 2007 bis 2018 sehr populär (heute heißt dieses Forum Kohlchan).18 Diese Foren stehen für einerseits toxische und nihilistische Inhalte19 und andererseits für kreative Umgebungen, die auf ihre Art die Internet-Culture geprägt haben, indem sich die Nutzer_innen Mainstream- Culture einverleibt und in Memes und anderen Inhalten wiederverwertet haben. 20 Die im Mainstream etwas weniger bekannte Website Something Awful, die auch etliche Foren beheimatet, existierte schon vor 4chan und prägte unter anderem die sogenannten Image-Macros. 21 Diese Art von Meme wird meiner Einschätzung nach heute von vielen Personen als Meme-Prototyp gesehen. Es handelt sich dabei um ein digitales Bild, das im oberen und unteren Bildteil Text zeigt, der sich auf das Bild bezieht und es in einen neuen Kontext setzt (Abb. 14). Der Anordnung und der Anzahl an Textinhalten sind dabei keine Grenzen gesetzt. Diese Praxis ist kulturell gesehen nichts Neues, Text und Bild wurden schon deutlich vor den frühen 2000er Jahren auf verschiedene Arten kombiniert. Der Unterschied liegt in der Funktionsweise des Internets, denn diese Foren erlaubten es zum ersten Mal sehr vielen Personen nahezu uneingeschränkt zu interagieren — um das Jahr 2006 herum besuchten 900 000 bis drei Millionen Nutzer_innen 4chan täglich.22

Hier greifen die Mechanismen des von Dawkins beschriebenen Meme-Begriffs: Eine Idee (z.B. ein bestimmtes Image Macro) wird in einem Forum gesehen und entweder verbreitet, oder bearbeitet und erneut geteilt. Wenn das Image Macro nicht gefällt, wird es ignoriert und somit nicht weitergegeben. Aufgrund der Masse an Nutzer_innen entsteht eine Art Evolution der Bildwitze und eine kreative, gemeinschaftliche Produktion. Die besten Ideen werden verbreitet, mutieren immer wieder zu neu kontextualisierten Memes und sind zu einem späteren Zeitpunkt kaum noch wiederzuerkennen. Die sogenannten Advice Animals, deren erster Vertreter der Advice Dog (Abb. 15) ist, sind ein Beispiel für diese Praxis aus dieser Zeit. Ausgehend von diesem Meme entstand eine Unterkategorie von Memes mit Tieren, die zweifelhafte Ratschlägen geben, oder andere Themen behandeln (Abb. 16, Abb. 17). Diese Bild- und Humor-Traditionen werden nicht von einzelnen Personen geprägt, sondern durch eine große Masse an Nutzer_innen, die teilt, reproduziert und aussortiert.

Diese fünf Jahre alte Diskussion (Abb. 18) in dem Subreddit 23 /r/OutOfTheLoop (einem Forum auf Reddit) ist ein Beispiel für die rege Teilnahme einer riesigen, plattformübergreifenden Community: Hier möchten Nutzer_innen wissen, was die Bedeutung eines bestimmten aus 4chan stammenden Rage Comics 24 (Abb. 19) ist. Das betreffende Meme handelt von dem Meme-Charakter Demiurge, der auf einen gnostischen Halbgott verweist. Die Nutzer_innen dieses Subreddits erklären sich gegenseitig, was dieses Meme bedeuten soll. Im Jahr 2021 wird der Demiurg, der vorher nur kleineren Gruppen bekannt war, von einem größeren Publikum im Zusammenhang mit einem esoterischen Meme-Trend auf Instagram und anderen Plattformen benutzt (Abb. 20).


Memes heute

Nachdem diese der Internet-Subkultur zugehörigen Imageboards, Webseiten und Foren über Jahre die Produktion von Memes dominiert und viele auch heute noch benutzte Memes und Meme-Charaktere geprägt haben, begannen Nutzer_innen von Plattformen wie Reddit, Facebook, Tumblr, Twitter und später Instagram, Snapchat und Tiktok vermehrt Einfluss auf die Meme-Produktion zu nehmen. Auf der Website Knowyourmeme werden Memes recherchiert, kategorisiert und gesammelt, meistens wird auch die Herkunftsplattform genannt. Viele Einstiegshürden in Meme-Kommunikation werden so entfernt.
Aus diesem Archiv lässt sich auch ablesen, dass sich die Entstehung von Memes ab den 2010er Jahren nicht mehr nur auf die klassischeren Imageboards und Foren, sondern relativ breit gefächert auf alle Plattformen verteilt. Waren Memes vorher (trotz der großen Zahlen an Nutzer_innen auf 4chan) ein Ausdrucksmedium von Subkulturen, so sind sie heute in nahezu jeder Kommunikationsform im Mainstream des Internets zu finden. Große Zeitungen berichten oft über bestimmte Ereignisse und beschreiben gleichzeitig in einem separaten Artikel die Reaktion des Internets darauf. Diese Reaktionen sind meistens Memes, die sich mit dem Ereignis auseinandersetzen. Als im Frühjahr 2021 das Containerschiff „Ever Given“ den Suezkanal blockiert, werden auf allen Plattformen sehr viele Memes (Abb. 21, Abb. 22) geteilt, die Fotos des Ereignisses als Grundlage haben. Zeit Online berichtet in einem eigenen Artikel über diese Reaktionen des Netzes und versucht die Memes in den Kontext der Corona-Pandemie zu setzen.25 Auch Reaktionen auf Fußballspiele oder ähnliche Großveranstaltungen werden durch Kollektionen von Memes in Mainstream-Medien wiedergegeben.


Diese Entwicklung von Memes als Ausdruck einer Subkultur hin zu einer Praxis des Mainstream-Internets erzeugt Gegenbewegungen innerhalb der subkulturellen Gruppen. Ein Beispiel dafür ist der Kampf um das Pepe the Frog Meme (Abb. 23), das in den 2000er Jahren auf 4chan geprägt wurde, sich auf anderen Plattformen verbreitete und schließlich auch von Popstars verwendet wurde. Der US- Wahlkampf 2016 bot für viele 4chan Nutzer_innen die Möglichkeit, mit großer Medienaufmerksamkeit „ihr“ vom Mainstream geklautes Meme negativ zu konnotieren, damit es schließlich von der Öffentlichkeit als Hasssymbol gesehen wurde und nicht mehr benutzbar war (siehe hierzu das Kapitel „Rechte Aneignung von Memes“).26

Auch neu entstehende Memes scheinen auf diese Entwicklung hin zum Mainstream zu reagieren, indem sie sich im Bezug auf den Humor und auf die Bildsprache immer wieder verändern: Sie werden innerhalb bestimmter subkultureller Gruppen immer absurder, ironischer und nihilistischer. Das Image Macro hat einerseits einen schlechten Ruf und gilt in der sich schnell verändernden Welt der Memes und der Internet-Kommunikation als veraltet - genauso wie viele andere ältere Beispiele. Andererseits werden sie heute auf eine ironische Weise benutzt, die sich der Kritik des Veralteten bewusst zu sein scheint. Beim Betrachten aktueller Memes lassen sich deutliche Unterschiede zu den früheren Memes erkennen: Die Advice Animals zum Beispiel sind sehr leicht zu lesen, wenn verstanden wurde, dass die dahinterstehende Botschaft ein Witz ist — es gibt keine weiteren Ebenen der Ironie, die erst erkannt werden müssen. Obwohl die Tradition der Meme-Charaktere der Imageboards auch sehr kompliziert und seltsam ist, so lassen sie sich doch verstehen, wenn die Hintergrundinformationen dazu verfügbar sind. Die Webseite Knowyourmeme liefert zum Beispiel sehr viele Hintergründe dazu. Heute gibt es immer mehr absurde, subkulturelle Memes (Abb. 24, Abb. 25) die mehrere ironische Ebenen und Bezüge auf unbekannte Kontexte aufweisen, so dass sie für Außenstehende schwierig lesbar sind und deren eigentliche Aussage sehr oft missverstanden wird.

Dieses schwierig zu deutende Meme (Abb. 26) lässt sich nur verstehen, wenn vier separate Memes ebenfalls bekannt sind: Die im rechten Bildteil zu sehende Person ist William Knight 27, ein Tiktok-Influencer, der mit eindringlichen Videobotschaften über die Kraft des menschlichen Geistes zum Meme geworden ist. Er bespielt ein Publikum, das entweder auf ironische oder auf genuine Weise an moderner Esoterik und Verschwörungsmythen interessiert ist. Der Text dieses Memes bezieht sich auf seine Botschaft „There is no such thing as a coincidence. The fact that you are watching this video means that you are energetically aligned with me and this message.“. „Scream in Distance“ spielt auf ein bestimmtes Tiktok-Video Knights an, in dem eine Joggerin vermeintlich schreit, als sie Knight erblickt. „Memes create reality“ meint eine Manifestation der Meme-Welt in der physischen Welt. Die Figur, die auf der linken Seite zu sehen ist und einen Fliegenpilzhut trägt, ist ein Charakter namens Shroomjak 28 aus dem Wojak-Meme- Universum, einer auf den Rage Comics beruhende Meme-Subkategorie - ähnlich wie der weiter oben beschriebene Demiurg. Shroomjak steht für besonders absurde Memes und wurde vor allem von Nutzer_innen verarbeitet, die die Interessen von William Knights Publikum teilen. Am unteren Bildrand ist eine IKEA- Couch zu sehen, die als Teil der IKEA Pride Collection verkauft wurde. Sie wurde in vielen Bisexual Couch29 -Memes verarbeitet, die auf die Absurdität dieser Marketingstrategie anspielen. Meistens ist nicht klar, ob IKEA als kapitalistisches Großunternehmen, das Aussehen der Couch oder liberale Ansichten zu Geschlechterrollen kritisiert werden. Auf dieser Couch lässt sich eine rote, liegende Figur erkennen, die auf das Saddam Hussein's Hiding Place30 Meme anspielt, das auf einem BBC Artikel aus dem Jahr 2003 beruht. Darin wird eine schematische Zeichnung (Abb. 27) von Saddam Husseins Versteck nach seiner Niederlage im Irakkrieg gezeigt. Er selbst wird als eine auf dem rücken liegende rote Figur dargestellt. Erst im Sommer 2020 wurde die Zeichnung zum Meme, indem Nutzer_innen entweder die rote Figur in andere Kontexte setzten, oder das Versteck selbst durch digitale Zeichnungen erweiterten. Die meisten dieser Saddam Hussein's Hiding Place-Memes bedienten absurden Humor und hatten keine tiefere Bedeutung.

Diese vier Memes vereint, dass sie Teil einer Meme-Community sind, deren Vorliebe für esoterische, verschwörungsmythische und religiöse Themen sich nicht klar definieren lässt. Innerhalb dieser Gruppen wird das Teilen solcher Inhalte als Schizoposting31 beschrieben. Es ist nicht erkennbar, wieviele dieser Personen wirklich an diesen Themen interessiert sind, oder ob sie diese nur ironisch behandeln. Das beschriebe Meme spielt auf diese Ambiguität an, lässt aber ebenfalls keine eindeutige Botschaft erkennen.


Memes in der Zukunft

Meiner Einschätzung nach ist diese Entwicklung eine Reaktion auf die immer häufigere Benutzung von klassischeren Memes innerhalb des Mainstreams auf den großen Plattformen oder in den Nachrichten. Der Begriff Meme kann innerhalb der Internet-Culture auch neu konnotiert werden. Es gibt viele ungeschriebene Regeln dieser Kommunikationsart, die ebenso oft befolgt wie gebrochen werden. Neue Plattformen wie Tiktok beeinflussen durch ihre Infrastruktur und durch ihre Nutzer_innen die dort verankerte Meme-Praxis: Es werden hauptsächlich Videos geteilt, die auch die eigene Person zeigen (was sich in den Memes auf dieser Plattform widerspiegelt). Die Personen benutzen oft kein gefundenes Ausgangsmaterial wie Bilder oder Videos, sondern selbstgemachte digitale Aufnahmen ihrer eigenen Körper und Musik, um die memetische Praxis anzuwenden. Sie imitieren das Verhalten anderer, fügen Eigenheiten hinzu und teilen die Ergebnisse wieder. In anderen Zusammenhängen werden virale Inhalte als Memes bezeichnet: Auf Facebook gibt es viele Accounts, die Zusammen- stellungen von Katzenvideos als Cat-Memes anwerben, obwohl diese Bezeichnung eigentlich falsch ist. Auch die Wortneuschöpfung des Verbs „to meme“ bedeutet nicht das Herstellen eines Memes, sondern eher Unfug anstellen. Es ist also nicht in Stein gemeißelt, was der Begriff eigentlich meint. Das Internet kann so viele Bedeutungen umschreiben: Was richtig und falsch ist, entscheidet nicht die Meme-Tradition, sondern die Masse an Personen, die einen Begriff in einer bestimmten Bedeutung benutzt - ähnlich wie bei Memes selbst: Die „evolutionär stärkere“ Bedeutung gewinnt. Die Tradition ist nur eine Vorgabe, mit der gebrochen werden kann (siehe hierzu das Kapitel „Ein Blick in die Gegenwart mit TikTok“).

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1 Richard Dawkins: Das egoistische Gen, Heidelberg 2008, 321.2 Bradley E. Wiggins: The Discoursive Power of Memes in Digital Culture. Ideology, Semiotics, and Intertextuality, New York 2019, 1-2. 3 Mike Godwin: Meme, Counter-meme, 1994, www.wired.com/1994/10/godwin-if-2/, gesehen am 19.09.2021. 4 Vgl. hierzu auch: www.knowyourmeme.com/, gesehen am 19.09.2021. 5 Brad: Godwins’s Law, 2009, knowyourmeme.com/memes/godwins-law, gesehen am 19.09.2021. 6 Dale Beran: It Came From Something Awful, New York 2019, 61. 7 Geert Lovink: Digitaler Nihilismus. Thesen zur dunklen Seite der Plattformen, Bielefeld 2019, 194-195.8 4chan ist ein Imageboard — also eine Website mit vielen Unterforen, auf denen neben schriftlichen Inhalten auch Bilder geteilt werden können —, das 2003 online gegangen ist und seitdem besteht. (erlehmann, plomlomplom: Internet-MEME. kurz & geek, Köln 2013, 63.) 9 Vgl. hierzu auch: andyking.jp/index.php/about/, gesehen am 19.09.2021. 10 Vgl. hierzu auch: joshuacitarella.com/, gesehen am 19.09.2021. 11 Vgl. hierzu auch: www.knowyourmeme.com/memes/bernie-sanders-wearing-mittens-sitting-in-a- chair, gesehen am 19.09.2021.12 Diese Ansicht resultiert aus meiner eigenen Erfahrung und wird auch von Geert Lovink in seinem Buch „Digitaler Nihilismus“ bestätigt. Davon ausgeschlossen sind Memes, die klar und deutlich diskriminierende Symbole oder Bezeichnungen beinhalten. 13 Matt: Steven Crowder's "Change My Mind" Campus Sign, 2018, www.knowyourmeme.com/ memes/steven-crowders-change-my-mind-campus-sign, gesehen am 19.09.2021.14 Tom McCormack: Emoticon, Emoji, Text II: Just ASCII, 2013, www.rhizome.org/editorial/2013/apr/ 30/emoticon-emoji-text-ii-ascii/, gesehen am 19.09.2021. 15 erlehmann, plomlomplom: Internet-MEME. kurz & geek, Köln 2013, 23-26. 16 Ebd. 30-31. 17 Ebd. 38-39. 18 Ebd. 63-66. 19 Dale Beran: It Came From Something Awful, New York 2019, 52.; Ebd. 70. 20 Ebd. 59. 21 Ebd. 61. 22 Ebd. 69. 23 Reddit ist eine ähnliche Plattform wie 4chan, die etwas jünger ist. Unterforen heißen dort Subreddits 24 Rage Comics sind ältere Memes, die eine sehr simple Ästhetik haben. Oft wurden sie mit Microsoft Paint angefertigt und zeigen hauptsächlich Strichmännchen 25 Eike Kühl: Zero Fucks Ever Given, 2021, www.zeit.de/digital/internet/2021-03/schiff-suezkanal- memes-ever-given-corona-pandemie?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F, gesehen am 19.09.2021. 26 Dale Beran: It Came From Something Awful, New York 2019, 154.27 Vgl. hierzu auch: www.knowyourmeme.com/memes/william-knight-there-is-no-such-thing-as-a- coincidence, gesehen am 19.09.2021. 28 Vgl. hierzu auch: www.knowyourmeme.com/memes/shroomjak-mushroom-wojak, gesehen am 19.09.2021. 29 Vgl. hierzu auch: www.knowyourmeme.com/memes/bisexual-couch, gesehen am 19.09.2021. 30 Vgl. hierzu auch: www.knowyourmeme.com/memes/saddam-husseins-hiding-place, gesehen am 19.09.2021. 31 Vgl. hierzu auch: www.knowyourmeme.com/memes/schizoposting, gesehen am 19.09.2021.